Dr Samah Jabr ist Psychiaterin und leitet den Bereichs Psychische Gesundheit des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Ramallah. Außerdem ist sie Schriftstellerin. Der französische Dokumentarfilm Derrière les fronts : Résistances et résiliences en Palestine zeigt sie in ihrem Arbeitsalltag: Man sieht sie im Gespräch mit einer Patientin (die Szene ist nachgespielt); ein anderes Mal sieht man sie, wie sie Fortbildungen über die Bedeutung von psychologischen Gutachten für Folteropfer gibt, und zwischendurch immer wieder das Warten und die Erniedrigung am Qalandia Checkpoint: Hier muss Jabr jedes Mal durch, wenn sie von Jerusalem, wo sie wohnt, nach Ramallah zur Arbeit fährt.

Was bedeutet es, unter einer Militärbesatzung im Bereich „psychische Gesundheit“ zu arbeiten? Diese Frage beschäftigt Jabr. Sie sagt, dass die Besatzung nicht nur Land und Territorium kontrolliert, sondern den Menschen auch in die Knochen und den Geist dringt. Zu heilen ist für sie eine Form von Widerstand. Dabei sieht sie ihre Funktion als Psychiaterin auch kritisch: In einer Szene am Anfang des Films spricht sie direkt in die Kamera und erklärt: „Ich bin eine Psychiaterin. Das heißt, ich arbeite mit Kategorien von Störungen. Menschen, die sehr krank sind. Aber ich sehe, dass da etwas Heuchlerisches ist. Mich um die zu kümmern, die ein Label haben, Schizophrenie, Bipolare Störung, Depression, und so weiter, und die alltägliche Psychopathologie des normalen Lebens in Palästina zu ignorieren, das kein Label hat.“
Jabr hat zahlreiche Artikel veröffentlicht und kritisiert darin auch westliche Journalist*innen, die wieder und wieder Statistiken über die hohen Raten von Suizidalität, Depression, PTSD in Palästina herunterrattern. Sie sagt „Ich hinterfrage die Methodologie.“ Dazu gehört auch die Rolle von (internationalen) NGOs im heutigen Palästina, die es scheinbar durch die Arbeit mit psychiatrischen Diagnosen leichter haben, sich zu finanzieren. „Wenn man sieht, wie diese NGOs mit der einen Hand Inventarlisten mit PTSD- Symptomen verteilen und mit der anderen Hand Essen anbieten, dann mögen wohl manche in Versuchung sein, ihrem Hunger, ihrem Elend und ihrer Armut dadurch Ausdruck zu verleihen, indem sie in dem Fragebogen die Boxen ankreuzen.“
In dem Film kommen auch andere Akteur*innen zu Wort, darunter Ghadir Shafie von der feministischen und queeren palästinensischen Gruppe ASWAT Palestinian Gay Women; Theodosius de Sebastia, der Erzbischof der griechisch-orthodoxen Kirche in Jerusalem, und Sheikh Khodr Adnan, ein Aktivist, der mit einem 55-tägigen Hungerstreik gegen die Administrativhaft (das bedeutet: Eingesperrtwerden ohne Anklage, Prozess, oder Verurteilung) protestierte! Ein wichtiges Konzept, dass die Beiträge dieser unterschiedlichen Personen zusammenhält ist Sumud, ein arabischer Begriff, der Standhaftigkeit bedeutet. Samah Jabr setzt es in Beziehung zum psychiatrischen Begriff Resilienz und betont: Während Resilienz als eine Fähigkeit des Geistes/der Psyche beschrieben wird, ist Sumud eine Praxis, eine Orientierung hin zum Handeln gegen Unterdrückung. Diese Orientierung zum Handeln ist Jabres Ansicht nach heilsam.
Der außergewöhnliche Dokumentarfilm lässt die Zuschauer*innen einsteigen in die Arbeit und das Leben einer wichtigen Intellektuellen und Aktivistin. Außerdem bietet er einen Einblick in palästinensisches Leben, Denken, Handeln und Heilen unter israelischer Besatzung, wie er in Deutschland selten öffentlich gezeigt wird. Er erschien 2017. Die israelischen Besatzung ist seitdem noch brutaler geworden. Zu dem Zeitpunkt, wo ich diesen Newsletter zusammenstelle, hat sie sich in Gaza unter dem Alibi der Hamas-Bekämpfung zu einem Völkermord oder drohendem Völkermord intensiviert. (Weitere völkerrechtliche Ausführungen dazu auf Englisch hier und hier und hier und letztere übersetzt auf Deutsch hier).
Auch im Westjordanland und Jerusalem, wo der besprochene Film spielt, hat die Besatzungsgewalt zugenommen. Im Vergleich mit Ermordung, Zerstörung ganzer Lebensräume, Gefängnis und Vertreibung mag es nur eine Kleinigkeit scheinen, dass die israelischen Autoritäten den Frauen und Kindern, die im Rahmen eines Gefangenentauschs Ende November aus israelischen Gefängnissen befreit wurden, strenge Auflagen gab, nicht zu feiern, keine Zeichen von Freude zu zeigen, und keinen Besuch zu empfangen – unter der Drohung, sie sonst wieder einzusperren. Damit wären wir jedoch noch einmal beim engeren Thema unseres Films angekommen, beim Thema Emotionen: Dass der Kampf um die Kontrolle bzw Freiheit von Emotionen auch ein Schauplatz der Besatzung und des Widerstandes ist. Samah Jabr ist auch heute weiter aktiv. Auf Instagram spricht sie über die therapeutische Bedeutung von internationaler Solidarität.
Der Film der französischen Regisseurin Alexandra Dols ist etwas weniger als zwei Stunden lang. Er hat den Sunbird Preis für besten Dokumentarfilm (2017) gewonnen. Gesprochen wird English, außerdem Arabisch und Französisch. Mit Untertitel und Texteinblenden gibt es den Film in vier Versionen: Arabisch, Französisch, Englisch und Spanisch. Der Film ist verfügbar auf Vimeo, wo er für 4,52 € ausgeliehen (Streaming innerhalb von 48 Stunden) oder für 8,14 € gekauft und heruntergeladen werden kann. Einen dreiminütigen Trailer gibt es dort auch.
Diese Filmbesprechung veröffentlichte ich in der aktuellen Dezember-Ausgabe des E-mail-Newsletter des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V., wo ich die Redaktion mache. Alle Zitate von Samah Jabr sind von mir aus dem Englischen übersetzt.

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