Liebe alle,
ich antworte hier auf die Kritik an meiner Analyse im Rahmen meiner Filmrezension von „Jenseits der Frontlinie: Widerstand und Resilienz in Palästina“ im letzten E-Mail-Newsletter. Ich höre einmal den Wunsch, wir im BPE (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener) mögen uns auf „unseren“ Kampf konzentrieren und unsere beschränkten Kräfte nicht für das Thema Israel/Palästina verwenden. Zum zweiten höre ich konkrete inhaltliche Kritik an meiner Filmbesprechung. Ich will mich erst zum einen äußern, dann zum anderen.
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Ich persönlich stehe für eine breitgefasste politische Bewegung ein, die auf Solidarität unter allen Unterdrückten baut. Dazu gehört auch eine Offenheit für Intersektionalität, also dass die verschiedenen Unterdrückungsformen in der Realität miteinander verwoben sind. Ich habe Ansätze dieser Haltung auch bereits im BPE gesehen. Ich erinnere mich, dass der BPE in 2021 sich kritisch gegen Gentrifizierung und für die Rechte von Mieter*innen positioniert hat. Und bei der letzten Mitgliederversammlung wurde beschlossen, dass der BPE sich für ein Bedingungsloses Grundeinkommen ausspricht. Das sind zwei Beispiele, wo der BPE sich mit sozialen Bewegungen, die nicht im Kern „ureigenste“ Psychiatrieerfahrenen-Bewegungen sind, zusammentut und einen gemeinsamen politischen Ausblick entwickelt. Ich finde solche Blicke über den Tellerrand und mögliche Bündnisse wichtig und sinnvoll. Ich würde es begrüßen, wenn der BPE auch der Bewegung für ein freies Palästina in Solidarität begegnet.
Die Entscheidung für den BPE als solchen treffe jedoch nicht ich allein, sondern prinzipiell die Mitgliederversammlung bzw der Vorstand.
In meiner Rolle als Redakteurin des E-Mail-Newsletters berichte ich über die Arbeit des BPE (inklusive AGs, Landesverbände) und stelle einige zusätzliche interessante Inhalte mit Bezug zu Psychiatrie-Erfahrenen zusammen. Diese sind von verschiedenen Autor*innen und teils auch von mir, jeweils mit dem Namen der_s Autor_in unterzeichnet. Darunter fällt auch meine Filmbesprechung von „Jenseits der Frontlinie: Widerstand und Resilienz in Palästina“ über die palästinensische Psychiaterin Samah Jabr, inklusive meiner aktuellen politischen Analyse. In anderen Newslettern schrieb ich über aktuelle Entwicklungen in Australien rund um das Thema Wiedergutmachung von psychiatrischem Unrecht; eine Dokumentation über Nan Golding und ihren Aktivismus gegen den Pharmakonzern Purdue; über die Psychiatrie-erfahrene irische Sängerin Sinéad O’Connor, und mehr. Es gab dabei immer einen direkten Bezug zum Thema Psychiatrie/Psychiatrieerfahrung, aber ich habe auch alle anderen damit verbundenen Themen zugelassen. Ich finde Blicke über den Tellerrand wichtig und bereichernd und würde kein Interesse haben an einer politischen Bewegung, wo dies verboten ist. Ich sehe es auch als eine selbsthilfe-ähnliche Praxis, sich zu öffnen, mit anderen Akteur*innen auf der Welt mehr zu lernen.
2.
Nun zu der inhaltlichen Kritik an meiner Filmbesprechung, wozu gehört, die Analyse sei einseitig und unterkomplex, der Begriff Völkermord sei unzutreffend, und insgesamt sei der Beitrag antisemitisch.
Den Begriff Völkermord bzw. drohender Völkermord habe ich verwendet, weil er die Realität beschreibt. Ich habe einige Verweise zu Quellen verlinkt, gerade für diejenigen Leser*innen, die den Begriff bisher nicht als zutreffend anerkennen. Ich bitte euch, dass ihr euch mit der Realität auseinandersetzt und auf dieser Basis euer Urteil bildet und nicht aus dem Bauchgefühl, was sich instinktiv als „ziemlich heftiger Vorwurf“ anfühlt oder als „heikel, Israel das vorzuwerfen“ auf Grund der Shoa/des Holocaust oder als „schwierig in der aktuellen Situation.“ Es mag sich schwierig anfühlen, Israel das vorzuwerfen, aber wie schwierig ist es dann wohl erst, diesen Völkermord zu erleben? Ich will damit sagen, dass ich diesen Begriff verwende, nicht aus Überlegungen, wie es sich anfühlt, Israel das vorzuwerfen, sondern weil ich mich auch gegenüber Palästinenser*innen in Gaza zur Ehrlichkeit und Fairness verpflichtet fühle.
Ja, genau, ___, Völkermord hat eine Definition. Sie ist mir auch bekannt. In der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord von 1948 verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten – darunter auch Deutschland – Völkermord zu verhindern. Völkermord wird dort definiert als “eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Das bedeutet, neben der direkten Tötung (a) und dem Zufügen von schwerem körperlichen und seelischen Schaden (b) gehört auch das vorsätzliche Auferlegen von Lebensbedingungen, die geeignet sind, .. körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen (c) dazu, was in Gaza durch das vorsätzliche Entziehen von sauberem Wasser, von Nahrung, von Energie und die Zerstörung der zum Leben notwendigen Infrastruktur passiert ist und weiter passiert.
Bezüglich der genozidalen Absicht hinter diesen Handlungen weist z.B. der Genozidforscher Raz Segal auf die Äußerungen Netanyahus hin, dass man Gaza „plattmachen“ oder „auslöschen“ wolle. Man könne dem entgegenhalten, dass Israel in Gaza das offizielle Ziel verfolgt, die Qassam Brigaden oder die Hamas zu vernichten und die Vernichtung der Bevölkerung als Ganzes nur „unabsichtlich“/“nebenbei“ passiert. Dem gegenüber stehen jedoch zahlreise Äußerungen führender israelischer Regierungs- und Armee-Vertreter*innen, die auf die Vernichtung und das Plattmachen von Gaza zielen und die Entmenschlichung aller Palästinenser*innen (in Gaza) betreiben.
Ich verweise nochmal auf Raz Segals Analyse vom 13. Oktober, wo er Israels Vorgehen gegen Gaza als ein „Lehrbuchbeispiel“ für Genozid bezeichnet. Ich habe weiters in meinem Beitrag im Newsletter eine Erklärung von über 800 Wissenschaftler*innen in Third World Approaches to International Law Review verlinkt. Diese Erklärung schicke ich euch noch einmal mit. In dem originalen Beitrag im Newsletter findet ihr außerdem Links zu einen Legal Briefer der International Commission of Jurists, eine Erklärung zahlreicher UN Menschenrechtsexpert*innen, sowie den Rücktrittsbrief von Craig Mokhiber. Diese Texte sind auf Englisch. Für diejenigen, die bevorzugt auf Deutsch lesen, habe ich auch zu einer deutschen Übersetzung von Craig Mokhibers Text verlinkt. Von den anderen Texten ist mir leider keine deutsche Übersetzung bekannt. In der Zwischenzeit (am 16.12.2023) wurde jedoch eine weitere deutschsprachige Analyse veröffentlicht vom Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern e.V., zum Thema „Völkermord in Gaza.“
@____: Die Beschuldigung, dass Guterres (der UN-Generalsekretär) und die UN allgemein sich durch Antisemitismus hervorgetan haben, kann ich nicht nachvollziehen. Du lieferst auch keinerlei Belege dafür.
Ich möchte darauf hinweisen, dass Deutschland, wie Israel und die USA mit dem Begriff von Israel als Repräsentant von Jüd*innen arbeitet. Nach ihrem Verständnis gilt Unterstützung für Israel als Kampf gegen Antisemitismus. Aber wenngleich Israel sich als „jüdischer Staat“ definiert, repräsentiert es nicht Jüd*innen als solche. Wem tatsächlich etwas an der Freiheit und dem Wohl und der Sicherheit von Jüd*innen gelegen ist, der muss klar unterscheiden zwischen Jüd*innen einerseits und Israel und dem Zionismus andererseits. Der muss auch jegliche Versuche, Unterstützung für Israel dadurch schönzureden, dass es im Interesse „der Juden“ sei (was eine antisemitische Fantasie ist), entschieden zurückweisen. Siehe dazu Elise Hendricks klare Analyse.
Die zionistische Bewegung war übrigens innerhalb jüdischer Communities von Anfang an umstritten. In den globalen Palästina-solidarischen Protesten heute sind Jüd*innen überproportional vertreten. In den USA ist das besonders sichtbar. Jüd*innen haben dort z.B. den Hauptbahnhof in New York blockiert und über Hanukkah jeden Tag Brücken besetzt, mit Forderungen nach einem Waffenstillstand, nach einem Stopp des Genozids, nach Freiheit für Palästina. Auch in Deutschland sind Jüd*innen in der Palästina-solidarischen Bewegung stark vertreten. Neben Palästinenser*innen – die in Deutschland eine große Diaspora-Community sind, und anderen Araber*innen, sowie Muslim*innen, deren rassistische Diskriminierung in Deutschland durch einen pauschalisierten Antisemitismus-Vorwurf verstärkt und schöngeredet wird – sind es auch eine beachtliche Zahl von Jüd*innen, die in Deutschland von nicht-jüdischen israel-loyalen Politiker*innen und Medienvertreter*innen als „Antisemit*innen“ diffamiert werden, wenn sie die deutsche Staatsräson mit ihrer Palästina-Solidarität durcheinanderbringen.
Abschließend möchte ich noch einmal auf den Kampf von Psychiatrie-Erfahrenen zurückkommen. Wir kennen die Situation, wie es ist, mit der UN-Behindertenrechtskonvention herumzuwedeln: „Hey, hier steht es doch geschrieben, die Menschenrechte zählen auch für uns“ – und die Praxis derer, die für unsere Misshandlungen verantwortlich sind, kümmert es wenig. Und wir schreiben höfliche Briefe an die Menschenrechtskommissar*innen internationaler Organisationen, dass man das, was auf dem Papier steht, doch nicht ignorieren soll. Und wir kämpfen an gegen bürokratische Verzwickungen von Logik und Vernunft, die Gewalt als Moral inszeniert, wir protestieren gegen Expert*innen, die auf Tagungen neue Gewaltanwendungen planen, auch wenn wir dort grob rausgeschmissen werden… Der Kampf ist nicht leicht, und doch kämpfen wir weiter.
Das hat Ähnlichkeit mit dem Kampf der Palästinenser*innen. Menschenrechte! Völkerrecht! Recht auf Selbstbestimmung! Anti-Folter-Konvention! Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord! Wie vielversprechend das alles klingt! Aber für Palästinenser*innen bleibt das – bis jetzt – nur Papier. In den Worten von Bisan, einer Journalistin aus Gaza, zum 75jährigen Jubiläum der allgemeinen Menschenrechtserklärung: „Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte schützt nur die Zivilist*innen von großen, bedeutenden Mächten dieser Welt.. und wir als normale Leute, normale Menschen, werden nicht geschützt.“
Wie viel stärker wir alle sein könnten, wenn wir zusammen kämpfen… Die Ähnlichkeiten sind auch nicht nur zufällig, sondern haben eine gemeinsame Geschichte und Struktur in den Verbindungen zwischen Psychiatrie und Rassismus/Kolonialismus. Dass wir es noch nicht geschafft haben, die Gewalt der Psychiatrie abzuschaffen, mag wohl damit zusammen hängen, dass wir die rassistischen Strukturen der Welt, in die die Psychiatrie verstrickt ist, erst unzureichend verstanden und abgeschafft haben.
Und so… Diejenigen, die jetzt den Völkermord in Gaza verleugnen, haben erstmal gute Chancen, dass ihre Ignoranz „nur“ von unten gesehen wird – also von den Zerbombten, Hungernden, Durstenden, Verletzten und Kranken in Gaza und denen, die für sie protestieren. Von oben wird die Genozid-Leugnung möglicherweise nicht so schnell bloßgestellt werden, denn der Chef-Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, der hier eine wichtige Rolle spielen sollte, ist eine von Israel gewünschte Personalie, und er hat gesagt, dass er jenen Fällen Priorität gibt, die vom UN-Sicherheitsrat (mit Veto-Macht USA) an ihn verwiesen werden. So hat er auch nicht die Kriegsverbrechen der USA in Irak und Afghanistan untersucht. Er hat bis jetzt vertreten, dass der Fall Gaza für ihn keine Priorität hat.
In so einer Welt kritiserst du, ____, meine Analyse als „einseitig.“ Ich vermute, du meinst: Wenn ich Palästina sage, muss ich auch israel sagen. Wenn ich über palästinensisches Leid schreibe, muss ich auch über israelisches schreiben. Wenn ich über Gaza schreibe, muss ich auch über Re’im schreiben. Aber es gibt weder eine Symmetrie zwischen Israel und Palästina, noch gibt es eine neutrale Position ihnen gegenüber. Schon gar nicht in Deutschland, das nach den USA Israels größter Waffenlieferant ist. Wir sind – als politische Akteur*innen in Deutschland – nicht Zuschauer*innen, sondern Mittäter*innen dieses genozidalen Krieges gegen Palästinenser*innen, sofern wir uns nicht aktiv und nach unseren Möglichkeiten gegen ihn erheben. Die Wahrheit zu sagen ist das Minimum.
Die Sache ist sehr ernst, und die Bewegung für ein freies Palästina wird überall auf der Welt weiterkämpfen, auch in Deutschland. Der deutsche Staat bekämpft diese Bewegung mit allen Mitteln. Der Versuch, sich als neutral zu positionieren, wird immer unglaubwürdiger. Besonders für Akteur*innen, die sich in ihrer politischen Arbeit auf Menschenrechte, auf Selbstbestimmung, auf Gerechtigkeit oder auf andere emanzipatorische Prinzipien berufen.
Ich habe diese Antwort nicht durchgehend mit unzähligen Links zu Belegen oder weiterführenden Informationen begleitet. Aber wenn ihr zu einem bestimmten Punkt mehr Informationen oder Tipps für weiterführendes Material haben möchtet, könnt ihr mich anschreiben.
Johanna Rothe
Diesen Brief schrieb ich als Antwort auf Kritik von wenigen mit Öffentlichkeitsarbeit befassten Personen im BPE, die aufkam, nachdem ich die betreffende Filmbesprechung im Newsletter veröffentlicht hatte.
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