Es folgt mein Leserinnen- und Kündigungsbrief an die taz, wie ich ihn vor ein paar Tagen, am 16.6.2021 per E-mail abgeschickt habe. Ich bin darin nicht auf einzelne Artikel eingegangen, sondern zusammenfassend auf die Summe ihrer redaktionellen Entscheidungen und ihrer veröffentlichten Artikel.
Die Botschaft, die Ihre Zeitung in den letzten Wochen über die Ereignisse in Israel/Palästina generiert hat, ist diese: „Es gibt dort, im Nahen Osten, einen komplexen Konflikt zwischen zwei Seiten. Dazu beziehen wir keine klare Position.“ Ich habe nicht mitgezählt, wie viele Kommentare Sie veröffentlicht haben, die die Aussage „Ich bin kein*e Expert*in im Nahostkonflikt“ so darstellen, als handele es sich dabei um eine moralisch beachtenswerte Haltung. Wohlgemerkt, ich würde es anders beurteilen, wenn eine Person, die einen nicht-intellektuellen Beruf oder gar keinen Beruf ausübt, mir privat dieses Zugeständnis macht, aber als Journalist*innen sind Sie in der Verantwortung, sich zu den Themen, über die Sie schreiben, Wissen zu verschaffen. In Israel/Palästina herrscht Apartheid. (Spät, aber doch, prangert dies nun auch Human Rights Watch an.) Angesichts dessen ist Ihre geflissentlich bescheidene Einordnung der eigenen Unwissenheit alles andere als eine moralische Geste. Wer gegenüber großem Unrecht schweigt oder, wie in Ihrem Fall, schwammige Worte verbreitet, der unterstützt dieses Unrecht. Aber die Botschaft über die Komplexität „dort,“ über die die taz kein Urteil fällt, ist nur der erste Teil Ihrer Botschaft. Der zweite Teil lautet ungefähr so: „Jedoch hier, in Deutschland, gibt es ein ganz offensichtliches Problem, nämlich grassierenden Antisemitismus unter (pro-)palästinensischen Akteur*innen, und das verurteilen wir, wie jeden Antisemitismus!“ Um die Beziehung zwischen Ihrer „Keine Ahnung / Alles sehr komplex / Wir halten uns da raus“-Position zur Apartheid in Israel/Palästina und Ihrem sehr klar vorgetragenem Bekenntnis gegen Antisemitismus herauszuarbeiten, muss ich etwas ausholen und nochmal auf die Frage, was als Wissen über Israel/Palästina und Antisemitismus zählt, zurückkommen. Viele Menschen, die seit Jahren oder Jahrzehnten über diese Themen forschen, werden in Deutschland auch von linken und antirassistischen Projekten ignoriert, ein- und wieder ausgeladen oder diffamiert, weil ihre Worte über Apartheid und Siedler-Kolonialismus, ihre Unterstützung der BDS-Bewegung (für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen gegen Israel) oder ihre Beschäftigung mit palästinensischen Lebensrealitäten als antisemitisch konstruiert werden. Der Vorwurf wird untermauert von einer eigenen Liga an Antisemitismus-Expert*innen, zu denen auch staatliche Antisemitismus-Beauftragte und antirassistische Stiftungen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung gehören, welche in sorgfältigen Definitionen und Publikationen das in Deutschland politisch gewollte Wissen festhämmern, dass Protest gegen Israel und Solidarität mit Palästina, teils bis hin zur Identität von Palästinenser*innen, grundsätzlich im Verdacht stehen, antisemitisch zu sein. Im Falle der Diffamierung der BDS-Bewegung hat sogar der deutsche Bundestag definiert, dass diese antisemitisch sei. Daher ist weder die Trennlinie zwischen dem Geschehen „dort“ in Israel/Palästina und „hier“ in Deutschland so klar und einfach, wie Sie es darstellen, noch ist Ihre Verurteilung von Antisemitismus in Deutschland in dem aktuellen Zusammenhang unabhängig von Ihrer Entscheidung, klare Worte gegen die Apartheid in Israel/Palästina zu vermeiden. Erstens ist Deutschland durch seine enge Kooperation mit Israel an dem Geschehen „dort“ mit beteiligt, und zweitens unternimmt Deutschland unter dem Vorwand, Antisemitismus zu bekämpfen, sehr viel dafür, die Organisationen von Palästinenser*innen in Deutschland (wie u.a. „Palästina Spricht“) und globale Solidaritätsbewegungen (wie u.a. BDS) zu bekämpfen und damit zu verhindern, dass diese von „hier“ dabei mithelfen, die Apartheid-Strukturen „dort“ zu beenden. Und mit „Deutschland“ meine ich in diesem zweiten Punkt nicht nur staatliche Akteur*innen, sondern auch zivilgesellschaftliche wie die taz. Denn auch Sie, liebe taz-Redaktion, benutzen das Thema Antisemitismus, um damit Ihre de-facto Unterstützung des menschenverachtenden Status Quo in Israel/Palästina in ein moralisch besseres Licht zu rücken. Ich kann diese Linie nicht mehr ertragen und werde deshalb mein abo bei der taz beenden. Freiheit und Gerechtigkeit gelten entweder für alle, oder sie sind – wie bei Ihnen – hohle Phrasen. Johanna Rothe
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