Mich treibt eine Sehnsucht, Psychiatrie zu skandalisieren.
Auch wenn ich nicht wirklich an die Macht von Skandalen glaube.
Aber als ich in der Geschlossenen in meiner Isolationszelle stand, da war der Glaube an den bevorstehenden Skandal das, wodurch ich mir diesen unerträglichen Moment irgendwie zu eigen machte.
“STOP THE ABUSE!” („Stoppt die Misshandlung!“) hatte ich mit Schoko-Pudding an die Wand geschrieben. Aus dem Leberwurst-Sandwich hatte ich in der Mitte der Matratze einen fleischfarbenen Haufen geformt. Eine Abtreibung sollte das darstellen. Ein Stück des Bounty-Riegels diente mit als Mascara, für meine Augenbrauen. So hatte ich das ganze Abendessen, das sie mir in meine Zelle gebracht hatten, verwertet.
“Komm so schnell wie möglich und mach Fotos, wie sie mich finden, wenn sie die Isolationszelle öffnen,” hatte ich einer Freundin per sms geschrieben. In meinem weißen Krankenhausnachthemd stand ich da nun. Mit durchgestrecktem Arm zeigte ich auf meine Botschaft, die sich in großen Lettern über zwei Wände streckte. Ich meinte alle Misshandlungen – in all den misshandlerischen Partnerschaften, in den Foltergefängnissen in Abu Ghreib und Chicago, in den Supermax Gefängnissen, und eben auch hier, im Theodor-Wenzel-Werk in Berlin Zehlendorf.
Ich hatte den Blick an die Tür geheftet und wartete darauf, dass meine Verbündete meine Zelle stürmen und mich befreien würden. Die Bilder würden durch alle Nachrichten und Soziale Medien gehen. Die Station würde schließen müssen.
Skandal? Normal.
Später, als ich wieder draußen war und die Tage sich wieder einer an den anderen reihten, zog in mir das befremdende Wissen ein, dass das, was ich in der Psychiatrie erlebt hatte, kein Skandal war, und kein Grund zur Schließung, sondern ganz normaler Betrieb.
Mit dieser Webseite will ich mein Wissen über dieses Zusammensein von „Skandal“ und „Normal“ in eine kritische Kraft verwandeln. In ein Wissen, dass verbindet und verbündet statt vereinzelt und immer weiter isoliert. Den Namen ENTISOLIEREN (auf Deutsch) und DEISOLATE (auf Englisch) habe ich gewählt, weil dieses Wort einen aktiven Prozess suggeriert, der beim Aufsperren der Isolationszellen und dem Losbinden der Fesseln anfängt, aber damit noch lange nicht beendet ist.
Die Gewalt der Psychiatrie setzt andere fort, die in vielen ähnlich von-der-Öffentlichkeit-verborgenen, Privatsphäre-entbehrenden Lebens- und Sterbensräumen verdichtet ist (von Gewalt beherrschte familiäre Räume, Polizei-, Abschiebe- und sonstige Gefängnisse, Flüchtlingslager, Heime, Kolonien, militärbelagerte Räume). Psychiatrie operiert in einer Welt, die von Kolonialismus, Versklavung, hetero-patriarchaler Gewalt und Rassismus geformt wird. Deswegen auch bin ich nicht interessiert an einem Skandal im herkömmlichen Sinne. Ein Skandal im herkömmlichen Sinn setzt voraus, dass es eine moralisch intakte Öffentlichkeit gibt, deren Entsetzen über einen Missstand deshalb effektiv ist, weil es mit Zustimmung zum sonstigen Normalzustand einhergeht.
Der Skandal, die mich interessiert, ist schon lange im Gange. Er nährt auf einem Entsetzen, das keinen Raum hat, Ausdruck zu finden, weil es sich nicht in falsche Schablonen drängen lässt. Er nährt auf dem Bewusstsein, dass das eigene Leben weder selbstverständlich noch unendlich ist. Er hat keine Angst vor der Verrücktheit, sondern sehnt sich nach Freiheit, Vergnügen, Liebe und solidarischer Unterstützung.
Psychiatrieerfahrung, Universitätserfahrung
Vor meiner Psychiatrieerfahrung war ich sieben Jahre lang Studentin in History of Consciousness („Geschichte des Bewusstseins“), einem interdisziplinären Promotionsprogramm an der University of California, Santa Cruz. Ich benenne das hier, weil ich die Psychiatrie in einer gewissen Kontinuität zur Universität erlebte. Als ich gefesselt in meiner Isolationszelle in der Psychiatrie lag (dies war wohl einige Stunden nach der eingangs geschilderten Szene), kam ein Gutachter des Bezirksamts, um zu prüfen, ob mit der mir zugefügten Gewalt “auch alles rechtens” wäre. Er fragte mich, worum es denn in meiner Doktorarbeit ginge. Ich hatte noch nie gerne meine Forschung über Konstruktionen des Selbst in der Freudschen Psychoanalyse zu Small Talk mit Autoritätspersonen gemacht, selbst in weniger gewalttätigen Begegnungen. Bei all meinem Entsetzen über die Situation hatte ich nicht das Gefühl, etwas völlig Neues zu erleben, sondern etwas lange und schmerzhaft Bekanntes in neuer Klarheit. Was neu war, war, dass ich mit Nachdruck schwieg.
Die Psychatrisierung war das Ereignis, das mir den Ausgang aus der Universität zeigte, und dafür bin ich ihr trotz allem irgendwie dankbar. Vielleicht mache ich irgendwann wieder irgendwas an einer Uni, aber das Entscheidende ist, dass ich die Bedürfnisse meiner beruflichen und sozialen Existenz nicht mehr durch sie zu erfüllen hoffe.
Beruflich habe ich einen Quereinstieg als Sozialarbeiterin gefunden und bin so existenziell und sozial erst einmal abgesichert. Mein Job (von dem ich gerade in Elternzeit bin) ist in einer psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle mit der Zielgruppe „Geflüchtete mit psychischen Belastungen.“ Ich bin also nun nicht nur Überlebende und Betroffene von Psychiatrie, sondern auch deren Nutznießerin. Genauso bin ich Nutznießerin der sogenannten „Flüchtlingskrise,“ und insbesondere von der Psychiatrisierung von Geflüchteten.
Mein Traum ist es, mich stärker zu der Arbeit, um die es mit ENTISOLIEREN geht, hinwenden zu können, wenn ich es schaffe, damit auch Einkommen zu erzielen.
Ich bin stolz, dass ich diese Webseite selbst gebaut habe und mir dadurch ein Forum für meine intellektuelle Arbeit geschaffen habe, mit dem ich einen Austausch auf selbstbestimmtere und schönere Art zu gestalten hoffe als in Sozialen Medien und Wissenschaft.
Wer weiß, was morgen ist
Es gibt so viel zu lernen. Ich bin von dem kolonialen und rassistischen (Nicht-)Wissen geprägt, das die ‚Westlichen Medien‘, Schul- und Universitätslehrpläne und Kulturbetriebe beherrscht, auch wenn ich seit vielen Jahren dagegen arbeite. In der Geschichte der Psychiatrie-Betroffenen-Bewegung bin ich auch noch ein Grünschnabel. Trotzdem beeile ich mich, diese Webseite zu eröffnen, die ja Dokument eines Prozesses sein soll. Dokument einer Suche nach Verbündeten und neuen Möglickeiten. Wer weiß, was morgen ist…
In diesem Sinne: Willkommen auf meiner Webseite!
Koray Yılmaz-Günay meint
Keine Ahnung, ob sich hier Herz-Emojis hinterlassen lassen wie andernorts, aber mir wäre gerade danach! Danke für diesen Text und die Website, auf die wirklich ansprechend und lehrreich ist. Und hoffentlich vielen anderen Wege weist! <3