„Völkermord ist verboten“, informiere ich den Typen, der mir mit gerunzelter Stirn dabei zusieht, wie ich auf meinem Banner herumstreiche. Relativ erfolglos, denn der Kugelschreiber – das Beste, was ich in meinem Rucksack finden konnte – überdeckt kaum den dicken Filzstift, mit dem mein Slogan auf dem braunen Pappkarton steht:
DEUTSCHE POLITIK + MEDIEN,
WIR SEHEN, WAS IHR TUT:
IHR UNTERSTÜTZT VÖLKERMORD
UND NEBENBEI DIFFAMIERT UND BEKÄMPFT IHR UNS ALLE
UM EURE IDENTITÄT ALS “GUT” ZU PFLEGEN
Mit dem Ende bin ich nicht so zufrieden. Das sollte griffiger sein. Ich meine, dadurch, dass sie uns von vorne bis hinten diffamieren – ob als Terroristen oder als Antisemit*innen, als dumm, lächerlich oder gefährlich – managen sie ihr Selbst. So erhalten sie sich ihr Märchen, dass sie was Besseres, Klügeres, Moralischeres wären als der Rest der Welt. Wenn sie nicht auf uns rumhacken würden, hätten sie gar nichts mehr zu sagen. Fürs nächste Mal muss ich nochmal nachdenken, wie ich das besser auf den Punkt bringe. Aber jetzt ist meine Sorge eine andere.
“Also, das Wort ist verboten“, stelle ich klar. “Hast du vielleicht einen dicken Filzstift dabei?” frage ich. Er schüttelt den Kopf, fragt aber die Leute hinter uns. Irgendjemand spendiert vier Stück Pflaster. Schade um die guten Pflaster, finde ich, aber ich nehme sie trotzdem dankend an und klebe damit ein X über das Wort Völkermord.
Ich gehe auf Palästina-Demos, wann immer ich kann. Ich gehe, weil ich mit all den anderen Widerständigen auf der ganzen Welt Israels Vorgehen gegen Gaza stoppen will. Ich gehe auch, weil ich inmitten der Demos – trotz der Angst vor Repressionen – tief durchatmen kann, weil ich die Mitmenschlichkeit spüre, die geteilte Wut und die Hoffnung. Weil ich es brauche, echte Menschen um mich zu haben, die klar machen, dass sie unbeeindruckt sind von der ganzen zionistischen Propaganda von rechts bis links, von Springer-Presse bis taz über Die Zeit und die Öffentlich-Rechtlichen. Also, um es klar zu sagen: ich gehe nicht nur für die Menschen in Gaza, ich gehe auch für mich. Wir hängen alle zusammen.
In der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord von 1948 verpflichten sich die unterzeichnenden Staaten – darunter auch Deutschland – Völkermord zu verhindern. Völkermord wird weiters definiert als “eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.”
A, b und c sind für Gaza augenscheinlich zutreffend, und führende israelische Regierungsvertreter*innen sprechen die Intention der Vernichtung offen aus. Für Abhandlungen zu dem Thema verweise ich auf Craig Mokhibers Rücktrittsbrief von seinem Amt als Direktor des New Yorker Büros des Hohen Kommisars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, sowie auf den englischen Text “A textbook case of genocide” von Raz Segal, Professor für Holocaust- und Genozid-Studien.
Letzte Woche und die Woche davor haben wir laut STOP THE GENOCIDE skandiert. Aber als ich mich heute der Demonstration näherte, sind gleich zwei freundliche Ordnerinnen auf mich zugekommen und haben mich mit Blick auf mein Banner informiert, dass die Polizei einige Wörter verboten hat, darunter auch Genozid und Völkermord. „Aber, schön, dass du hier bist,“ trösten sie mich, als sie sehen, dass ich ein bisschen niedergeschlagen bin angesichts dieses unvorhergesehenen Problems. „Danke euch, dass ihr das alles organisiert!“ antworte ich. Dann sortiere ich meine nächsten Möglichkeiten.
Mein Grund, hier zu sein, hängt nicht an einem Wort. Ich will keine Schwierigkeiten, die nicht absolut notwendig sind. Streiche ich VÖLKERMORD eben dick durch und schreibe APARTHEID und KOLONIALISMUS darüber, so meine Idee. Es ist sowieso alles miteinander verbunden.
Vorsichtshalber wende ich mich zur Rücksprache nochmal an eine Ordnerin. Sie drückt mir eine ausgedruckte Liste in die Hand und sagt, ich solle am besten selbst die Auflagen nachlesen. Ich lese: Kein Holocaustbezug jedweder Art, kein Bezug auf Anne Frank, kein “From the River to the Sea” jedweder Art. Die Liste geht weiter, aber Apartheid und Kolonialismus kommen nicht vor. „Ist nicht verboten,“ informiere ich die Ordnerin, als ich ihr die Liste zurückgebe. “Dann drück dich aus!” beglückwünscht sie mich. Sie hebt das Megafon zum Mund und ruft zum hundertmillionsten Mal zum Waffenstillstand auf: CEASEFIRE NOW! Wir antworten: CEASEFIRE NOW!

Dies ist eine kurze Geschichte aus dem Alltag einer Palästina-Solidarischen in Deutschland während des Gaza-Genozids. Wenn du von der Geschichte bewegt bist und die Möglichkeit hast, die schriftstellerische Arbeit finanziell zu würdigen, bitte ich um eine Spende an KOP, die Kampagne für Opfer rassistisch motivierter Polizeigewalt (Kontoinhaber Ariba e.V., Verwendungszweck: Rechtshilfefonds KOP, IBAN: DE69 3702 0500 0003 2448 01, BIC: BFSWDE33XXX).
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