Als ich für die Zeitschrift Psychiatrische Pflege etwas zum Thema Menscheinrechte schreiben wollte, dachte ich an die Worte einer Mitpatientin in der geschlossenen Psychiatrie zurück. “Geht es hier überhaupt noch mit den Menschenrechten zu?” hatte sie geschrien. „Wer glaubt hier noch an Menschenrechte?“ hatte ich mich innerlich zurückgefragt. Ich beschloss, meinen Auftrag zu nutzen für eine Auseinandersetzung mit der Position von Menschen, die in der psychiatrischen Pflege beschäftigt sind.
Der resultierende Text ist jetzt frisch veröffentlicht in der Zeitschrift Psychiatrische Pflege.

Ich freue mich, die Manuskript-Version vom 6.12.2022 auch hier zu teilen. Die „Originalversion“ des Verlages als PDF darf ich nur auf individuelle Nachfrage teilen und tue dies natürlich gerne. Bitte nehmt in diesem Zusammenhang den urheberrechtlichen Hinweis am Ende zur Kenntnis. Aber jetzt erstmal: Viel Freude beim Lesen!
Wer glaubt hier noch an Menschenrechte?
Fantasien über Menschenrechtsproteste von Pflegekräften und Sitzwachen
Eine Mitpatientin schrie sich für mich die Kehle aus dem Hals, als ich im Flur der geschlossenen Psychiatrie von vier oder fünf Mitgliedern des Pflegepersonals gegen meinen kraftvollen Widerstand auf ein Krankenhausbett gehievt und dort festgebunden wurde. Ich konnte die protestierende Mitpatientin nicht sehen, schrie sie doch vom anderen Ende des Flurs, während ich in Rückenlage auf das Krankenhausbett gepresst war und abgesehen von dem mit mir beschäftigtem Personal nur meine nächste Umgebung und die Decke im Blickfeld hatte. Ich erkannte auch ihre Stimme nicht, aber unbekannterweise war ich voller Dankbarkeit für sie, dann nur dank ihr musste ich diesen furchtbaren Moment nicht völlig allein erleben. Ein paar Tage später, als ich wieder „frei“ war, mich innerhalb der geschlossenen Station zu bewegen, fragte ich mich bei meinen Mitpatient_innen zu ihr durch. Ich fand sie schließlich und bedankte mich bei ihr.
„Geht es hier überhaupt noch mit den Menschenrechten zu?“ hatte sie geschrien. Mir waren die genauen Worte weniger wichtig, als dass sie in jener Situation überhaupt die Stimme in Protest erhob. Ich fragte mich: Wer glaubt hier noch an Menschenrechte? Es war doch offensichtlich, dass das, was „hier“ – in der (geschlossenen)[1] Psychiatrie – passierte, mit Menschenrechten nichts zu tun hatte. Vielleicht war ihr das genauso klar wie mir. Ihre Frage wäre wohl eine rhetorische Frage – eine Frage, die keine Antwort erwartet und in ihrer Wirkung eher ein Statement ist als eine echte Frage. Aber die Unterscheidung erübrigt sich in einem Setting, in dem sowieso keine Antwort zu erwarten ist.
Jetzt, wo ich einen Beitrag zum Thema Menschenrechte für die Zeitschrift Psychiatrische Pflege zugesagt habe, denke ich an die Worte der Mitpatientin zurück, sowie an meine unausgesprochene Antwort-Frage. Ich möchte meinen Beitrag nutzen für eine Auseinandersetzung mit der Position von Menschen, die in der psychiatrischen Pflege beschäftigt sind, und adressiere mich dabei imaginär an diejenigen von ihnen, die tatsächlich noch an Menschenrechte glauben.
Zuerst noch ein kurzer Verweis auf den aktuellen Stand des internationalen menschenrechtlichen Vertragswerk. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) verbietet Zwangsmaßnahmen, die nur im Zusammenhang mit einer psychiatrischen Diagnose rechtfertigt werden können (United Nations, 2006). Sie ist in den Vertragsstaaten (darunter Deutschland und die Schweiz) geltendes Recht. Gleichzeitig – ich beziehe mich jetzt auf Deutschland – sind die staatliche und psychiatrische Praxis geprägt durch andere, mit der UN-BRK kollidierende Gesetzen und psychiatrische Denkformen. Ob und wie diese Kollision perspektivisch aufgelöst wird, ist eine hart umkämpfte Frage, die sich manchmal ein wenig versteckt hinter dem Begriff der „Umsetzung“ der UN-BRK. „Ja ja, die UN-BRK muss umgesetzt werden,“ darin sind sich die wichtigsten politischen Akteur_innen einig, aber was das bedeuten wird, ist alles andere als klar.
Gerne würde ich die Geschichten hören und lesen von den Pflegerkräften und Sitzwachen, die protestieren und nicht mitmachen bei den Zwangsmaßnahmen, die auf ihren Stationen angesagt sind. Denn auch wenn Zwangsmaßnahmen ärztlich angeordnet werden, hängt deren Ausführung doch stark an den Pflegekräften. Manchmal werden diese unterstützt durch externes Personal, das auf Stundenbasis einbestellt wird und als Sitzwachen neben fixierten Patient_innen sitzt und wacht. Auf diese Weise erfüllt die Klinik Vorschriften, dass bei Fixierungen eine persönliche Begleitung zur Verfügung zu stellen ist.
Wer von Seiten des psychiatrischen Personals nicht mitmachen möchte, hat mit der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ein starkes Argument. Wenn Sie sich auf die UN-BRK berufen für Ihre Weigerung, an Menschenrechtsverletzungen teilzunehmen, dann nehmen Sie aktiv teil am politischen Kampf um die Umsetzung der UN-BRK. Der Fachkräftemangel kann Ihnen Rückenwind geben, wenn Sie in der Position einer Pflegefachperson solch einen Menschenrechtsprotest starten. Jedenfalls ist eine Drohung mit Kündigung von Seiten des Arbeitgebers angesichts des Pflegenotstandes nicht so wirksam. Sie würden im Zweifelsfall einen neuen Job finden, aber die Einrichtung fände weniger leicht eine neue Arbeitskraft. Stärker sind Sie natürlich, wenn Sie gemeinsam mit anderen handeln, z.B. mit gleichgesinnten Kolleg_innen. Wer gewerkschaftlich organisiert ist – was bei den Beschäftigten in der Pflege eine kleine Minderheit ist – könnte versuchen, Unterstützung der Gewerkschaft zu mobilisieren. Zumindest der Zugang zu Rechtsanwält_innen könnte auf diesem Weg funktionieren.
Ich höre viele Geschichten von Menschen, die in der Pflege arbeiten und ihren Job aufgeben wollen oder müssen, weil er sie kaputt macht. Ich höre über Menschen, die ihre Jobs verlassen oder Stunden reduzieren aus einem Mix von Gründen – gesundheitliche Probleme, familiäre Verpflichtungen, Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen … Ich kenne Leute, die in solchen Situationen ihren Vorgesetzten der Einfachheit halber die unverfänglichste aller möglichen Erklärungen geben: „private Gründe“ oder „gesundheitliche Probleme.“ Aber auch wenn es ein Mix aus verschiedenen Gründen ist, warum nicht den Schritt nutzen für einen Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen, die Teil des Jobs sind? „Ich gehe, weil ich hierbei nicht mehr mitmachen will.“
Bei Jobs in freundlicheren Einrichtungen erscheinen die Herausforderungen anders, aber spätestens gegenüber dem staatlichen Auftrag, mit dem ganzen psychiatrischen „Hilfesystem“ zusammenzuarbeiten, stellt sich die Frage, welche Haltung wir einnehmen. Ich sage an dieser Stelle wir, denn auch ich bin in meiner Arbeit in einer psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle mit dieser Situation konfrontiert.
Es liegt mir fern, anderen Menschen zu sagen, was sie tun sollen, besonders wenn ich sie und ihre Umstände nicht kenne. Meine Protestszenarien sind keine Handlungsanleitungen oder Ratschläge. Es sind Fantasien, die ich bewusst kultiviere und teile, weil solche geteilten Fantasien über mögliche und vielleicht scheinbar unmögliche nächste Schritte wichtig sind, um Mut zu sammeln, sich mit den eigenen Handlungen aus einem untragbaren Ist-Zustand zu lösen und sich fallen zu lassen in die Ungewissheit einer Zukunft, die eben nicht vorhergesagt werden kann. Aber Sie werden sicher nicht ganz allein sein in dem, was dann kommt.
Literaturverzeichnis:
United Nations (2006). Convention on the Rights of Persons with Disabilities
[1] Ich schreibe hier primär über den Betrieb in der geschlossenen Psychiatrie, aber der Rest der Psychiatrie ist davon auch berührt, weil die verschiedenen Einrichtungen ja materiell und ideell miteinander verflochten sind.
Urheberrechtlicher Hinweis: Diese Artikelfassung entspricht nicht vollständig dem in der Zeitschrift Psychiatrische Pflege veröffentichten Artikel unter https://doi.org/10.1024/2297-6965/a000476. Dies ist nicht die Originalversion des Artikels und kann daher nicht zur Zitierung herangezogen werden. Bitte verbreiten oder zitieren Sie diesen Artikel nicht ohne Zustimmung der Autorin bzw. des Autors.
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